Buchnummer: ISBN 978-3-033-06135-4
Buchnummer: ISBN 978-3-033-06135-4
Auszug von den erste Seiten
Weit entfernt, in endloser Ferne
drang ein rasselndes Geräusch in sein Bewusstsein. Er kannte es, es war ihm
vertraut, aber er wusste nicht wohin mit diesem Wissen. Es störte gewaltig und
war nicht wegzudrängen. Es war so intensiv und fordernd, dass er sich im
Halbschlaf noch tiefer in seine Bettdecke eingrub.
Auf einen Schlag war er hellwach
- der Wecker! Es war Tag! Zwischen den Vorhängen drang bereits, in sanftem
Kontrast zu diesem unanständigen Rasseln, schüchtern und verstohlen das Licht
der aufgehenden Sonne in sein Schlafzimmer. Seine Hand suchte im Halbdunkel die
Quelle des Lärms und mit einem eindeutigen Klaps auf sein Oberteil verstummte
das mechanische Gerät. Klar hätte er sich einen dieser modernen und akustisch
diskreten Radiowecker anschaffen können. Aber im Schlafzimmer achtete er
darauf, keine elektrischen oder elektronischen Geräte zu installieren. Der
Wecker gehörte zum Nachlass seiner Grossmutter
Anne-Marie, welche vor einem Jahr verstorben war. Diese hatte er als
Knabe oft in ihrem Haus besucht. Bei Auslandaufenthalten seiner Eltern hatte er
regelmässig wunderbare Tage bis zu mehreren Wochen bei ihr verbracht.
Sein Grossvater war schon früh
bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen und seine Grossmutter hatte
beschlossen, alleine zu bleiben. Das Haus mit dem grossen Umschwung war eine
zehn Minuten Tramfahrt weg von seinem Elternhaus. Die Zeit, die er dort
verbracht hatte, war ihm stets präsent, es waren gute, unbeschwerte und
erlebnisreiche Tage gewesen. Mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft war er
stundenlang auf diesem grossen, parkähnlichen Grundstück herumgetollt.
Anne-Maries Tod kam
überraschend, eine Grippe, ein kurzer Aufenthalt im Spital, und schon hatte er
seine geliebte Grossmutter verloren. Die ohnehin eher leichtgewichtige und
feingliedrige Frau hatte innerhalb kurzer Zeit viel Gewicht verloren und an
einem Morgen hatte sie das Pflegepersonal tot in ihrem Bett aufgefunden. Er
hatte sie noch am Vorabend besucht. Sie war wie sonst gut aufgelegt und
gesprächig, doch spürte er an ihren Bewegungen, wie schwach und unendlich müde
ihr ausgezehrter Körper war. Beim Abschied hatte sie ihn, wie es ihre Art war,
kräftig umarmt. Diese Umarmung war für ihn aber im Nachhinein viel länger
ausgefallen als sonst. Er hatte diesem Umstand keine Bedeutung zugemessen und
war gedankenversunken nach Hause gefahren. Sie hatte auf ihre Weise Abschied
von ihm genommen.
Der Wecker gehörte neben der
Liegenschaft und den Wertschriften zu ihrem Nachlass und Tim war als einziger
Erbe in ihrem, drei Monate vor ihrem Tod erstellten und beglaubigten, Testament
vermerkt. Diese Abfolge hatte sie bereits vor Jahren mit ihrem einzigen Sohn,
seinem Vater, abgesprochen und schriftlich festgelegt. Dieser Wecker und ein
Bild von ihr aus ihrer Jugendzeit waren die einzigen Gegenstände, die er in
seine kleine Dachwohnung in der Stadt mitgenommen hatte. Ihr Bild, das Bild von
Eva und der uralte, urchige Wecker schmückten sein Beistelltischchen.
Noch schlaftrunken und müde vom
gestrigen Abend erledigte er die Morgentoilette und bereits ein wenig wacher
frühstückte er dann an seinem kleinen Esstisch in der Küche. Der Kaffee und der
Geruch des getoasteten Brotes weckten seine Lebensgeister. Es war neun Uhr und
Samstag und heute wollte er in der Stadt einige Besorgungen erledigen. Endlich
hatte er Zeit dazu. Er kleidete sich an und holte die Einkaufsliste. Er hatte
bereits die Haustüre verschlossen, als drinnen das Telefon ungestüm klingelte.
Er schloss wieder auf und nahm das Telefon ab. Es war sein Vorgesetzter.
„Es tut mir leid, Tim, wir haben
heute wieder Einsatz. Es ist ein Toter im städtischen Abwasserkanalsystem
gefunden worden. Du bist beauftragt, die Untersuchung zu leiten.“
„Kein Problem, Richard. Ich bin
angezogen und bereits unterwegs.“
Sein Tonfall verriet nicht den
kleinsten Ansatz seines Missbehagens. Es war nun bereits das dritte Wochenende
in Folge mit einem Arbeitseinsatz. Nicht, dass ihm seine Arbeit als
Staatsanwalt nicht gefiel, aber irgendwann wünschte er sich wieder einmal zwei
Tage am Stück ohne Besprechungen, Akten und Begehungen.
„Wohin genau muss ich fahren –
und was heisst, wir haben heute Einsatz?“
Üblicherweise wurde er vom
Einsatzleiter seines Bereiches aufgeboten und nicht von Richard Berger, dem
Oberstaatsanwalt, direkt.
„Du fährst zur Langstrasse und
biegst nach gut einem halben Kilometer rechts in die Gewerbezone ein, die
Einsatztruppe und die Spurensicherung sind bereits auf dem Weg dorthin. Beim
Toten handelt es sich vermutlich um Archibald Montgomery, einem bekannten
Financier und Industriellen. Mein Chef wünscht bei dieser Begehung meine
Anwesenheit. Ich werde dir aber in keiner Form im Wege sein.“
Wow, ein Prominenter tot im
städtischen Abwassersystem! Der Name Montgomery sagte genug aus. Die
Information mit dem Financier und Industriellen war komplett überflüssig. Der
Name war gekoppelt mit der international bekannten Phönix Holding, welche
ihrerseits Mehrheitsanteile von diversen bekannten Industrieunternehmen hielt
und verwaltete. Seit kurzem war der punktuelle Einstieg bei europäischen Invest
Banken veröffentlicht worden. Dies war in Bankkreisen unterschiedlich
aufgenommen und kommentiert worden. Veröffentlichungen waren immer auf die
Holding bezogen. Tim konnte sich jedoch nicht erinnern, je ein Bild von
Archibald Montgomery in den Zeitungen gesehen zu haben. Er kannte nicht einmal
die Nationalität dieses Mannes.
Tim band sich korrekterweise
noch eine Krawatte um, die ausgewaschenen Jeans beliess er nach kurzem Zögern.
Er packte sein Jackett und seine Aktentasche und machte sich auf zur
Tiefgarage. Sein alter Austin-Healey 3000 lief wie üblich gut an und er fädelte
sich in den schwachen Verkehr in Richtung Zürich ein. Das Wetter hatte
gewechselt und der einsetzende Regen klatschte vehement auf die kleine
Frontscheibe. Die kleinen Scheibenwischer bekundeten, wie üblich bei solchem Wetter,
ziemlich Mühe, das Wasser von der Scheibe zu kriegen. Es war Mitte März und die
kalten und regnerischen Tage liessen nicht auf den kommenden Frühling tippen.
Nach gut fünfzehn Minuten bog er
in die Gewerbezone ab und sah bereits nach kurzer Zeit die Polizeiabsperrungen
auf der rechten Seite. Der diensthabende Polizist erkannte nicht ihn, aber
seinen grünen Austin-Healey und winkte ihn mit einem Handzeichen durch die
Absperrung. Es regnete immer noch unaufhörlich und ausser den Einsatzkräften
der Polizei und zwei alten Männern war niemand in der Gegend. Er parkte sein
Auto unter einen alten, baufälligen Unterstand und stieg aus. Der leitende Mann
der Spurensicherung löste sich aus einer kleinen Gruppe und begrüsste Tim.
„Hi Tim, wir zwei kommen von
einander kaum mehr los. Ich glaube wir sind seit Wochen an den Wochenenden an
den gleichen Orten.“
Die Ironie von Walter Bütler war
wieder einmal sprichwörtlich und er verzerrte sein zerfurchtes Gesicht zu
etwas, was vermutlich aus seiner Sicht ein Lächeln hätte darstellen sollen. Er
war so etwa um die fünfzig und ein Urgestein in der Spurensicherung, mit
intelligenten Augen, hager, ausgemergelt, die Haut gegerbt, einem grossen
Schnauz im Gesicht und mit kräftigen Händen ausgestattet. Sie beide hatten sich
von Anfang an sehr gut verstanden und arbeiteten seit Jahren zusammen. Die
anfänglich gegenseitige Sympathie war im Laufe der Jahre zu einer engen
Freundschaft gewachsen. Noch heute erinnerte ihn sein Aussehen an seinen ersten
Gedanken, den er gehabt hatte, als er Walter das erste Mal gesehen hatte. Um
alles in der Welt - aus welchem Italo-Western hat man diesen Kerl in die
Spurensicherung nach Zürich geholt?
„Du hast Recht, wir sollten
zusammenziehen. Dann können wir gemeinsam gleichzeitig ausrücken. Was meinst
du, was wohl deine Frau dazu sagen würde?“
„Die Leiche liegt immer noch in
diesem verflucht stinkigen Stollensystem. Wir haben sie noch nicht angetastet.
Meine Leute sichern noch die Spuren im Umfeld. In einer Viertelstunde kannst du
zur Leiche, nimm vorher noch einen Schutzanzug vom Einsatzwagen. Es ist dort
unten unglaublich schmutzig.“
Inzwischen war Richard mit
seinem Dienstwagen eingetroffen und parkte diesen neben Tims Wagen. Sie
begrüssten einander, verstohlene Blicke bei den Polizisten und den Leuten der
Spurensicherung liessen unzweifelhaft darauf schliessen, dass der leitende
Oberstaatsanwalt eher selten an den Einsatzorten anzutreffen war. Dies war
keine Kontrolle, sondern hatte mit der Identität der Leiche zu tun. Richard
Berger führte und kontrollierte im Hintergrund. Er war immer sehr aktenkundig
und setzte in den einzelnen Fällen gewöhnlich seine fähigsten Mitarbeiter dafür
ein. Er war sehr kompetent und seine Mitarbeiter schätzten seine offene Art der
Kommunikation.
Von einem der Einsatzwagen
näherte sich ein Polizist mit zwei weissen Überzügen.
„Die Strasse ist gesperrt, die
Spurenaufnahme beim Schachtdeckel abgeschlossen. Ihr könnt runtersteigen, seid
vorsichtig, die Installationen sind uralt. Doktor Benthaus ist bereits unten
bei der Leiche.“
Die Leute der Spurensicherung hatten kurz
nach dem Eintreffen die eindeutige Identifikation der Leiche anhand des Passes
in der Jackettasche vornehmen können. Das Jackett lag unweit der Leiche am
Boden in der Nähe beim Schachteinstieg und gehörte unzweifelhaft mit den
silbrigen Längsstreifen und dem dezenten Grauton zu den Hosen des Toten. Das in
der Folge sofortige Aufgebot von Doktor Maya Benthaus war ein weiteres Indiz
für die Zuordnung der Wichtigkeit und der Brisanz dieses Falles. Der Vorgesetzte
von Richard hatte wie immer ein gutes Gefühl für die zukünftigen möglichen
Entwicklungsszenarien solcher Fälle. Einerseits wollte er mit seinem
Verantwortungsbereich nicht unvorteilhaft auf das politische Parkett gehievt
werden und andererseits hasste er persönliche, öffentliche Zuwendungen in Form
von Medienberichten. Die Absichten und die Eigendynamik einschlägiger Zeitungen
und deren zweifelhaften, unberechenbaren Journalisten waren ihm bereits als
junger Staatsanwalt ein Gräuel gewesen.
Wie ein Rudel von Hyänen waren
sie ihm vorgekommen. Bei öffentlichen Anlässen verhielt er sich ihnen gegenüber
immer freundlich und nett, weshalb ihm diese Leute sein Verhalten als
Understatement und Klasse andichteten. Auf seine eigene Art hatte er diesen
Schlag von Informationssammlern und Jägern während dem Aufbau seiner Karriere
irgendwie im Griff gehabt. Sei nie der Fuchs, aber falls du es trotzdem sein
willst, springe schneller als diese Jagdhunde und schlussendlich auch schneller
als die Gewehrkugeln.
Er wollte diesen Fall so rasch
wie möglich und so diskret wie nötig gelöst haben. Deshalb dieses Aufgebot
seiner besten Leute. Die Vermisstmeldung von Sir Archibald Montgomery war
bereits am Freitag um 20’37 bei der Luzerner Kantonspolizei eingegangen.
Montgomery hatte um 19’30 mit seiner Familie, das heisst, mit seiner Frau,
seinen zwei Töchtern und seinem Sohn in der Konzertbar im KKL abgemacht. Er war
nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen. Sein Mobile läutete buchstäblich
ins Leere. Die Familie hatte an ihrem Wohnort Luzern Karten für einen
hochkarätigen Konzertanlass im Kultur- und Kongresszentrum. Archibald
Montgomery hatte noch um 17’30 seiner Frau versichert, dass er pünktlich dort
sein werde. Er werde in einer Dreiviertelstunde mit seinem Auto von seinem
Zürcher Büro wegfahren.
Aufgrund dieser Informationen
hatte der Einsatzleiter seine Kollegen in Zürich und Zug informiert und um
aktive Unterstützung gebeten. Ein Unfall war nicht gemeldet und die raschen
Abklärungen vor Ort ergaben, dass sein Büro in Zürich ordentlich verschlossen
war. In seinem Konferenzraum, welches ihm auch als Arbeitsraum diente, wies
nichts auf etwas Unregelmässiges hin. Aber sein Maserati war noch in der
Tiefgarage des Bürogebäudes. Der Hauswart konnte sich dies nicht erklären, da
Montgomery ihm doch erzählt hatte, dass er heute Abend mit dem Wagen nach
Luzern fahren werde. Als er um zirka halb sieben auf seinem Rundgang im
obersten Stockwerk gewesen war, sei das Büro bereits verlassen gewesen.
Archibald Montgomery tauchte an
diesem Tag nicht mehr auf.
***
Die Meldung eines anonymen
Anrufers bei der Stadtpolizei Zürich am frühen Samstagmorgen hatte zur
Auslösung eines Polizeieinsatzes geführt. Ein Mann hatte das Aussteigen von
zwei verdächtigen Personen aus einem Abwasserschacht an einer Querstrasse zur
Langstrasse beobachtet. Die Beamten hatten die drei möglichen Schächte
kontrolliert und hatten bei dem einen frische Bewegungsspuren am Schachtdeckel
festgestellt. Sie waren in den Schacht eingestiegen und hatten zuerst das Jackett
mit dem Pass gefunden und darauf sofort den Einsatzleiter informiert. Ein
zweiter Einsatzwagen, ein Fahrzeug der Feuerwehr und eine Ambulanz wurden
vorsorglich in die Querstrasse beordert. Richard und sein Vorgesetzter wurden
informiert. Die Angaben im Pass stimmten klar mit der Vermisstmeldung vom
Vorabend überein. Die erweitere Suche führte rasch zum Auffinden des toten
Archibald Montgomery. Das weitere Vorgehen wurde festgelegt.
Tim und Richard stiegen mit
gemischten Gefühlen in das feuchte, schmutzige Abwasser-Kanalsystem hinab. Die
rostige Stahlleiter war nur noch an der einen Längsseite mit der Betonwand
richtig verschraubt und schlug bei jedem Tritt laut gegen die Wand. Es stank
bestialisch. Unten angekommen erwartete sie bereits der Zuruf von Maya
Benthaus.
„Rechts weg von der Leiter und
brav wie die Mücken dem Licht nach.“
Der Kanalquerschnitt war gut
mannshoch und röhrenförmig. Links und rechts konnte man auf einem kleinen,
steinigen Podest gehen. Das Rinnsal dazwischen war mit Sicherheit nicht die
übliche Abwassermenge. Entweder war dieses System nicht mehr in Betrieb oder
aus irgendeinem Grund lief jetzt kein Schmutzwasser in grösseren Mengen durch.
Die Baustrukturen wiesen auf eine Bauzeit anfangs des letzten Jahrhunderts hin.
Nur die Stahlleiter war vielleicht eine Generation jünger. Der Gestank war
grässlich. Es war feucht und Tim dachte mit Wehmut an den Geruch des Kaffees
und des getoasteten Brotes vom Morgen. Nach wenigen Schritten erreichten sie
nach einer Biegung die Quelle des Lichtes und somit Maya Benthaus. Sie war mit
einem Fotografen der Spurensicherung noch mit dem Ausleuchten und dem
Fotografieren der Leiche und der Umgebung beschäftigt. Sie begrüssten einander
kurz.
„Wir sind praktisch fertig und
in einigen Minuten wird die Leiche abgeholt und ins gerichtsmedizinische
Institut gebracht. Die Spurensicherung ist hier unten auch abgeschlossen und
mit den Bildern möchte ich das Ambiente des Fundortes in das
gerichtsmedizinische Institut einbringen.“
Der Sarkasmus von Benthaus war
nicht zu überhören.
„Die Obduktion werde ich noch
heute zusammen mit einem Kollegen durchführen.“
„Weisst du bereits etwas,
Maya?“, fragte Tim.
„Er ist bereits seit einigen
Stunden tot, aber nicht länger als acht Stunden. Es wurde ihm einmal in die Herzgegend
und einmal in den Kopf geschossen. Der Fundort ist voraussichtlich nicht der
ursprüngliche Tatort.“
„Was heisst: Ursprünglicher
Tatort?“
„Wir haben nur eine Patronenhülse gefunden.
Sie sieht sehr frisch aus und könnte von der Tatwaffe sein. Ich nehme an, dass
hier unten nicht derart oft herumgeschossen wird. Im Weiteren könnte es sein,
dass zwischen den beiden Schussverletzungen etwas Zeit liegt und die erste
Verletzung an einem anderen Ort passiert ist. Die Obduktion wird es an den Tag
bringen.“
Tim sah sich die Leiche, die auf
der Seite lag, genauer an. Der Mann war schätzungsweise 1.80 gross, so um die 54 bis 58 Jahre alt, schlank und hatte volles,
kurz geschnittenes, schwarz-graues Haar. Er war gut aussehend und die Kleidung
war geschäftsmässig, aber dennoch elegant und modisch. Er wirkte in der
gesamten Erscheinung eher zehn Jahre jünger. Schleifspuren an den Seiten der
Kleidung deuteten auf einen eher unsachgemässen Transport hin. Der linke Schuh
fehlte. Die rechte Hand schien verletzt worden zu sein, den Ringfinger der
linken Hand zierte schlicht ein schmaler, goldener, leicht abgeplatteter Ring.
Am Handgelenk war eine stahlfarbene Uhr mit weissem Zifferblatt und braunem
Lederband. Soweit Tim es sehen konnte, war es eine IWC. Die Augen waren
geschlossen und ein dünnes Rinnsal von Blut, das jetzt verkrustet war, war aus
dem Haarschopf in die rechte Augenhöhle gelaufen.
Der Mann hatte aristokratische
Gesichtszüge und erinnerte Tim eher an einen griechischen Sportler als an einen
erfolgreichen Geschäftsmann. Trotz der einsetzenden Totenstarre ebnete ein
sanfter, undefinierbarer, fast weicher Gesichtsteil im Augenbereich das eher
kantige und markante Gesicht zu einem sympathischen und gewinnenden Äussern.
Die Ausstrahlungskraft dieses Mannes wirkte noch über seinen Tod hinaus. Den
Einschuss in der Herzgegend konnte Tim aufgrund der Lichtverhältnisse nur knapp
ausmachen.
Doktor Benthaus räusperte sich
und Tim wurde schlagartig bewusst, dass er den Toten unverhältnismässig lange
angestarrt hatte.
„Kennst du ihn?“
„Nein, nein, er wirkt aber wie
ein erfolgreicher Geschäftsmann und als Mann sehr authentisch. Eine gewisse
Anziehungskraft ist ihm nicht abzusprechen. Sie steht absolut im Kontrast zu
dieser schmutzigen, stinkigen und grausigen Umgebung.“
„Du sagst es... Das ist so“,
meldete sich Richard neben ihm. Es erging ihm nicht anders als Tim.
„Ja, ihr habt Recht. Ich würde
ihn nach einem Termin in seiner Agenda
fragen, falls er noch am Leben wäre. Aber so habe ich die Gelegenheit, ihn noch
genauer kennen zu lernen, als ihm dies zu Lebzeiten lieb gewesen wäre.“
Die trockene Bemerkung passte zu
Doktor Benthaus und der Ansatz eines flüchtigen Lächelns huschte kurz über die
Gesichter von Tim und Richard. Maya war mit Abstand die attraktivste Pathologin,
die beide je gesehen hatten. Sie war noch ledig. Maya war bekannt als die
effizienteste und effektivste Gerichtsmedizinerin in der Region. Einsätze im
Ausland waren bei ihr die Regel. Ihre Vorträge an Fachkonferenzen waren von
ihren Fachkollegen immer gut besucht und ihre wissenschaftlichen Publikationen
wurden weltweit gelesen.
Andererseits brauchte man eine
gewisse Anpassungszeit, um sich an ihre Sprüche und Bemerkungen zu gewöhnen.
Diese waren immer direkt, schonungslos und gerieten, mit einer ordentlichen
Portion Sarkasmus gewürzt, manchmal an den Rand des Erträglichen. Für junge
Polizeioffizier-Aspiranten war sie in dem ihr zugedachten Zuhause, das heisst,
den Räumen der Pathologie, die Inkarnation all ihrer Ängste und Albträume. Ihre
faszinierende Gewandtheit mit dem Pathologie-Besteck war schrecklich
verblüffend, der resolute Umgang mit der beeindruckenden Trennschere
furchterregend und die galante Handhabung der elektrischen Säge war bereits
während ihrer Studienzeit legendär. Ihre grazile, anmutige Erscheinung passte
in keiner Art und Weise zu ihrer Berufung und Tätigkeit und verstärkte dadurch
zusätzlich die Wirkung auf die Zuschauer. Ihre Ausführungen bei den Obduktionen
wurden von ihrer glasklaren, hellen Stimme begleitet und bei Detailuntersuchungen
im Fleischgewebe - gespickt mit Analysen und Diagnosen - fühlte auch der in den
hintersten Reihen versteckte Zuschauer ihre Kompetenz in ihrem Fachgebiet.
Sie stammte aus einer
ungarischen Pathologenfamilie und schien von ihrem renommierten Vater scheinbar
alle Talente für diese Arbeit geerbt zu haben und von ihm mit allen Wässerchen
gewaschen worden zu sein. Der Ausbildungsleiter beruhigte jeweils die gefühlte
Spannung unter seinen Studenten nach einer Obduktion mit dem scherzhaften
Hinweis, dass Frau Doktor Benthaus Vegetarierin sei und sie somit für ihre
Umgebung keine unmittelbare Gefahr darstelle.
Inzwischen waren einige Personen
mit der Tragbahre bis zu ihnen vorgedrungen, es wurde sehr eng. Tim und Richard
verabschiedeten sich von Maya, balancierten zurück zur Leiter und stiegen mit
Erleichterung die Stahltreppe in den hellen Tag hinauf. Die frische, feuchte
Luft, die ihnen entgegenschlug, sogen beide gierig ein. Der Regen hatte
zugenommen und sie flüchteten sich in die, in der Zwischenzeit aufgeschlossene,
Halle beim Unterstand. Jemand hatte Kaffee gebracht und dankbar nippten beide
an ihren heissen Plastikbechern.